zu Pferde – ein Entwurf
Während einer bestimmten Zeit meines Daseins begegnete ich hin und wieder einem Menschen, dessen Gedankenwelt mich anfänglich nicht, mit der Zeit aber zusehends interessierte.
Der Mann war ungefähr 30 Jahre alt, normaler Statur und eher groß als klein, mit einer gewissen Nachlässigkeit, doch nicht nachlässig gekleidet. Schnell fiel mir auf, dass er die anwesenden Personen überaus aufmerksam, nicht misstrauisch, sondern mit besonderem Interesse beobachtete, nicht, als suche er sie zu erforschen, sondern als interessiere er sich für sie, ohne sich ihr Verhalten oder ihr Aussehen sonderlich einprägen zu wollen. Erst diese Eigenheit weckte mein Interesse für ihn. Ich begann, ihn mir genauer anzusehen und bemerkte, dass ein gewisser Ausdruck von Intelligenz in unbestimmt - bestimmter Weise seine Züge belebte.
Eines Tages kam es auf der Straße zu einem Zwischenfall. Der junge Mann wurde von einer Faust im Gesicht getroffen und rannte einen Augenblick später los. Im Laufen schoss er noch ein Selbstportrait mit einer Sofortbildkamera und bog fast zeitgleich mit dem Blitz der Kamera um die Ecke. Ein paar Minuten später, nachdem er sich beruhigt hatte, nutzte ich die Gelegenheit und richtete wie beiläufig einen Satz an den jungen Mann, der mir in gleicher Weise antwortete. Seine Stimme klang matt und zaghaft, wie die von Menschen, die nichts erwarten, weil es vollkommen nutzlos ist, etwas zu erwarten. Vielleicht war es aber auch gänzlich verfehlt, ihm diese Bedeutung beizumessen. Seither – ich weiß nicht warum – grüßten wir einander.
Eines schönen Abends, als wir uns möglicherweise durch den absurden Umstand näher gekommen waren, dass wir beide um halb zehn an einer Straßenkreuzung in Wien zusammentrafen, kamen wir wie nebenbei ins Gespräch. Er fragte mich, ob ich schriftstellerisch tätig sei, was ich verneinte.
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So, oder so ähnlich hat unsere Geschichte begonnen. Sein Name ist Florian Regl, zum Zeitpunkt dieser Niederschrift Student an der ›Universität für angewandte Kunst Wien‹ und im Bestreben, dieses Semester sein Diplom für Bildhauerei und Multimedia abzulegen.
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Heute ist der 3. April 2013. Das Wetter ist wechselhaft, mit einem Hang zu Sonnenschein. Wieso ich das hier erwähne, hat mit meiner Geschichte zu tun. Meine Geschichte ist allerdings hier und jetzt noch nicht relevant. Es ist nur relevant zu erwähnen, dass ich nicht schreiben kann – auch nicht das Interesse habe zu schreiben – aber trotzdem beschlossen habe, den schriftlichen Teil von Regls Diplomarbeit zu verfassen.
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Es fällt mir schwer, diesen Regl für jemand anderen zu beschreiben, beziehungsweise ihn jemandem vorzustellen, der ihn nicht kennt. Vielleicht muss ich das auch nicht: ihn beschreiben.
Vielleicht kann ich es auch nicht: ihn vorstellen. Florian Regl und ich kamen immer öfters und immer weniger durch Zufall ins Gespräch. Ich interessierte mich für sein Tun. Ich kann heute nicht sagen welche Umstände dies hervorgerufen haben, aber es ist so.
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Die Zeit verging, während uns ein gewisser Rhythmus den Takt vorgab, wann wir uns hörten und wann nicht. Wir haben uns gut eingespielt und spielten auch beide mit. Immer öfters vernahm ich im Zuge unserer freiwilligen Abhängigkeit seine Stimme:
“Zu sagen, Kunst zu machen sei einfach, ist töricht. Zu sagen, es sei nicht einfach, auch. […] Ich habe eine Frage: Was tun Sie, wenn Sie einen Menschen lieben?”
Ich fühlte mich von dieser Frage angesprochen, wollte eine Antwort finden, doch ließ er mir keine Zeit zum Nachdenken, geschweige denn zum Antworten, sondern tat dies in meinem Namen:
“Ich mache einen Entwurf von ihm und sorge dafür, dass er ihm ähnlich wird. Nicht der Entwurf, sondern der Mensch!”
Ich wollte wissen, weshalb er gerade mir diese Frage bezüglich Liebe gestellt hat. Als ob er meinen Gedanken lesen konnte, hörte ich auch schon seine Antwort:
“Ich habe anscheinend entdeckt, mich zu lieben. Zumindest denke ich es, zumindest glaube ich es. Darum möchte ich dir näher kommen und dich real werden lassen; und wenn es nur für einen Augenblick sein sollte.”
›Stop‹. Solange, bis ich alle Wörter niedergeschrieben habe. Immer ein Wort nach dem anderen. Dann drücke ich wieder auf ›Play‹.
“Ich bezweifle, dass ich überhaupt einen originellen Gedanken in meinem Kopf habe. In meinem immer kahler werdenden Schädel. […] Wäre ich glücklicher, dann würden mir die Haare vielleicht nicht ausfallen. […] Das Leben ist kurz. Ich muss das beste daraus machen. Heute ist der erste Tag meines restlichen Lebens. […] Ich bin ein wandelndes Klischee. […] Ich muss unbedingt mal wieder zum Arzt, meine Blutwerte untersuchen lassen. Da stimmt was nicht. […] Andauernde Müdigkeit. […] Wenn ich nicht alles immer aufschieben würde, wäre ich glücklicher. […] Ich hocke nur auf meinem fetten Arsch. Wenn mein Arsch nicht so fett wäre, wäre ich glücklicher. Dann müsste ich die Hemden nicht immer über der Hose tragen. Als könnte ich damit jemandem etwas vormachen. Ich sollte mal wieder joggen. Acht Kilometer am Tag. Die Hauptallee rauf und runter. Es diesmal wirklich durchziehen. […] Vielleicht noch Tennis. […] Ich muss anfangen, mein Leben zu leben. Was muss ich tun? Ich muss mehr lesen, mich weiterbilden. Ich könnte Russisch lernen oder so was. Oder Reiten! Chinesisch würde sich anbieten. […] Dann wäre ich der Kunststudent, der Chinesisch spricht und reitet. Das wäre doch cool. […] Und die Haare müssen runter. Ist doch Quatsch, mir selbst und allen anderen weis machen zu wollen, ich hätte noch volles Haar. […] Ich sollte einfach nur ich selbst sein. […] Souverän. […] Genau das finden doch alle anderen so attraktiv. […] Aber warum sollte ich mich für meine Existenz entschuldigen müssen? […] Vielleicht liegt es an meiner genetischen Beschaffenheit? Vielleicht ist das mein Problem. Ein Genfehler. All meine Probleme und Ängste könnten auf genetische Mängel oder fehlerhafte Synapsen zurückgeführt werden. […] Damit sollte ich mal zum Spezialisten. […] Aber trotzdem bleibe ich schirch. […] Daran wird sich nichts ändern.«
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An dieser Stelle sei erwähnt, dass ich die Textpassagen von Regl aus einem Diktiergerät höre. Seit einiger Zeit sehen wir uns nicht mehr so oft, genau genommen gar nicht mehr. Er lässt mir, weil ich ihn darum gebeten habe, oder weil er mich darum gebeten hat – so genau kann ich es nicht mehr sagen – Tonbänder zukommen. Er nimmt seine Gedanken mit einem Diktiergerät auf,
“[…] um sie wieder vergessen zu können.”
wie er sagt. Er hat mich gebeten, ihm einen Fragenkatalog zukommen zu lassen, damit er endlich zu seinen Antworten kommt. Aber welche Fragen soll ich ihm stellen? Und wieso eigentlich gerade ich? Ich bin doch schon ein wichtiger Teil seiner Arbeit! Es gibt sicherlich Personen, die besser dafür geeignet sind! Die einfach mehr Abstand zu ihm einnehmen können. Sei es drum! Nach vier Tagen habe ich ein Tonband vor mir liegen. Das Band eingelegt und die Abspieltaste gedrückt, höre ich nach einigen Sekunden seine Stimme.
“Fotografischer One - Shot […] Portrait […] Augenblick […] Einmaligkeit”
Ich drücke auf ›Stop‹. Interessant finde ich den Begriff ›fotografischer One-Shot‹. In seiner künstlerischen Laufbahn hat das Medium Fotografie immer wieder einen wichtigen Platz eingenommen, nicht als Endprodukt, sondern als Erweiterung. Einmal hörte ich ihn sagen:
“Ohne eine Geschichte wird mir sehr schnell langweilig. Es ist wie bei Tisch. Wenn plötzlich der Gesprächsstoff ausgeht und keiner mehr etwas zu erzählen hat, fühle ich mich sehr schnell unwohl.”
Ich möchte wieder seine Stimme hören und lasse das Band weiterlaufen.
“Ich brauche eine Geschichte. Ein Skript. […] Zumindest einen Entwurf. Ich werde reiten lernen. Das gefällt mir! […] Ich möchte mich auf einem Pferd sehen. Stillvoll und elegant sollen ich und das Pferd vor einer Kamera posieren. […] Ich werde eine Kamera an einem bestimmten Ort aufstellen, und zu einem definierten Zeitpunkt wird der Auslöser eben dieser Kamera gedrückt. In diesem Augenblick möchte ich im Bildausschnitt der Kamera auf dem Pferd sitzen, das gerade nur auf den Hinterbeinen steht. Kenner sagen dazu auch ›Pesade‹ oder ›Levade‹. Ich sage dazu ›so wie Napoleons Bild‹. […] Ausschnitt, Hintergrund, Pferd, Kleidung, Zeitpunkt des Auslösens, alles im Vorhinein fixiert. Die einzigen Unsicherheitsfaktoren sind das Wetter, das Pferd und eben ich. Was, wenn heftiger Regen einsetzt oder das Pferd nicht im richtigen Augenblick auf die Hinterbeine kommt? Was, wenn ich dämlich in die Kamera schaue, gar in dem Moment des Abdrückens vom Pferd falle? Aber es geht um den Entwurf. Es geht um dieses Bild: Regl zu Pferde. Es geht auch darum, dass diesmal nicht die Kamera einem Moment in der Wirklichkeit hinterherläuft, sondern zu einem gewissen Zeitpunkt alles nur und ausschließlich in ihrem Blickwinkel passiert. Alles außerhalb dieses Rahmens und alles vorher oder nach diesem Moment der Belichtung wird niemand sehen und erfahren. Ausser: ich will es so! […] Denn durch das Fotografieren vergisst man.”
›KLACK‹. Das Band muss umgedreht werden. Beim Umdrehen des Bandes schweift mein Blick wie von selbst über den Schreibtisch hin zum Bücherregal. ›Texte zur Theorie der Fotografie‹. Ich nehme das kleine, gelbe Buch heraus und blättere darin. Bald schon muss ich schmunzeln und freue mich, ein Zitat gefunden zu haben, das das eben Gehörte unterstreicht:
“Wenn eine Sache fotografiert werden will, so ausgerechnet deswegen, weil sie ihren Sinn nicht preisgeben will, weil sie nicht reflektieren will. Sie will nämlich direkt eingefangen werden, an Ort und Stelle vergewaltigt, bis ins Detail ausgeleuchtet. Wenn irgend etwas Bild werden möchte, so nicht, um anzudauern, sondern um besser verschwinden zu können.”
Jean Baudrillard, ›Den die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität‹
Ein paar Umdrehungen des Bandes muss ich warten, bis wieder die Stimme von Regl zu hören ist:
“Was dann auf diesem Bild zu sehen ist, ist der Entwurf des Künstlers Florian Regl für die Diplomarbeit ›zu Pferde – ein Entwurf‹. […] Würde ich dieses Foto ein Jahr früher, eine Woche später oder wann auch immer machen, es würde jedesmal ein anderer Entwurf entstehen. Darum werde ich mich für einen bestimmten Tag und eine bestimmte Uhrzeit entscheiden. […] Keine weitere Manipulation des Bildes. […] Ich könnte hundertmal auslösen und das beste Foto nehmen. Aber zu oft und zu schnell hinter einander: ›Ich liebe Dich‹ sagen sollte man auch nicht. […] Wirkt dann nicht mehr glaubwürdig. Glaube mir!”
Auf dem Band ist für einige Zeit nur Rauschen zu hören. Dann wieder Regls Stimme:
“Ich bringe mich selbst in mein Kunstwerk. Ich weiß, dass es ich bezogen, narzisstisch, solipsistisch, vielleicht sogar erbärmlich ist. Vielleicht bin ich erbärmlich. Aber diesen erbärmlichen Regl auf einem muskulösen, schwarzen Pferd zu sehen, welches nur schwer zu bändigen ist, finde ich ein sehr schönes Bild. Und es generiert etwas, das ich, zum jetzigen Zeitpunkt, gerne selbst als Betrachter sehen würde. Als Bild vor mir an der Wand: Mich – zu Pferde.”
Er hat sicher gute Gründe dafür, denn er ist ein Künstler, denke ich mir und höre weiter:
“Dabei habe ich überhaupt keine Ahnung vom Reiten. […] Ich kann Pferden keine Faszination verleihen. […] Mein Horizont reicht nur bis zu meiner kleinen Existenz. […] Wenn ich über etwas Kunst machen kann, dann höchstens über mich und meine Empfindlichkeiten. Allerdings ist auch das sehr schwer, wenn nicht noch schwerer! […] Ich bin mein schlimmster Betrachter. […] Ich will es schaffen. Für mich und für Dich! […] Das ist die geforderte, lächerliche Professionalität, die ich von uns beiden verlange!”
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Ob er es schaffen wird, weiß ich nicht. Mich wird es nur solange geben, solange er mich nicht vergisst.
»Tatsächlich bedrückt es mich ein wenig wie eine bevorstehende Verurteilung. […] Denn ich bin die Rolle, die gespielt wird. Ich bin nicht der Schauspieler, ich bin sein Spiel.” Fernando Pessoa, ›Das Buch der Unruhe‹
Ab dem Zeitpunkt, wo er mich auf dem Bild sehen – und mir tatsächlich gegenüberstehen wird – beginnt für ihn und mich etwas Neues.
Aufgrund des Leseflusses und der künstlerischen Freiheit habe ich es mir vorbehalten, Personen und deren Werke, die in diesem Text vergleichend herangezogen worden sind, erst hier – im Epilog – zu erwähnen: • Beginn des Textes bzw. die Beschreibung des Kennenlernens: vgl.: Fernando Pessoas Vorwort in ›Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernando Soares‹ • ein Großteil der Tonbänder von Florian Regl: vgl.: den Beginn des Films ›Adaption‹ Drehbuch: Charlie Kaufman, Regie: Spike Jonze • “Was tun Sie, wenn Sie einen Menschen lieben? […]”: vgl.: Bertolt Brechts Kurztext ›Herr Keuner und die Liebe‹
Aufgrund des Leseflusses und der künstlerischen Freiheit habe ich es mir vorbehalten, Personen und deren Werke, die in diesem Text vergleichend herangezogen worden sind, erst hier – im Epilog – zu erwähnen: • Beginn des Textes bzw. die Beschreibung des Kennenlernens: vgl.: Fernando Pessoas Vorwort in ›Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernando Soares‹ • ein Großteil der Tonbänder von Florian Regl: vgl.: den Beginn des Films ›Adaption‹ Drehbuch: Charlie Kaufman, Regie: Spike Jonze • “Was tun Sie, wenn Sie einen Menschen lieben? […]”: vgl.: Bertolt Brechts Kurztext ›Herr Keuner und die Liebe‹